Geschichten

Die Zeder
Ich wachse langsam.
Meine Zeit
ist eine lange Geduldigkeit.
An allem wuchs ich, was mir ward,
Kein Reif zu jäh, kein Frost zu hart.
Ich wachs am Dunkel, daraus ich stieg,
ich wachs am Licht, darin ich mich wieg.
Ich wachs am Wurm, der an mir nagt,
ich wachs am Sturm, der durch mich jagt.
Veredelnd zwing ich jede Kraft,
hinauf zu dehnen meinen Schaft.
Ich dulde Blitz und Glut und Guß,
ich weiß nur, daß ich wachsen muß.
Und schau ich hoch auf diese Welt,
und kommt die Stunde, die mich fällt:
schmück Tempel ich und Paradies
des Gottes, der mich wachsen ließ.
Aus dem Orient

wie ein Baum...
Halte deine Wurzeln fest verankert in der Erde 
Finde deine Nahrung im Grundwasser 
Lass dich durch Stürme nicht entwurzeln 
Strecke deine Zweige dem nächsten Baum entgegen 
Versuche deine Baumkrone in Richtung Himmel zu schieben 
Lass dein Laub im Herbst beruhigt fallen doch 
Knospe neu im Frühjahr 
Spende Schatten in der Hitze 
Lass Vögel in dir wohnen 
Stärke deine Widerstandskraft 
Gib deine Biegsamkeit nicht auf 
Stoße knorrige, verhärtete Äste ab 
Gib jungen – sprießenden Trieben Raum 
Und 
Führe ein Leben 
wie es fest verwurzelten Bäumen entspricht. 
(Sylke-Maria Pohl)

Die Ulme

Da ist es wieder, dieses Ziehen in der Brust. Um 4:00 Uhr Früh. Wo ist der Schlaf? Es ist, als zögen hektische Bilder durch den Raum, Kalenderblätter (3 Termine zur selben Zeit – das geht sich niemals aus), Projektpläne und Gedanken an den gestrigen Tag. Mich hat ein Traum geweckt. Wovon genau er handelte, weiß ich nicht mehr. Ich sehe nur noch eine Straße vor mir, die unfassbar lang sich durch die Stadt erstreckt, einen Berg hinauf gewunden bis zum Gipfel führt. Genau dort muss ich hin. Und als ich fast verzweifelnd überlege, ob ich den Weg in meiner eng begrenzten Zeit tatsächlich zu bewältigen imstande bin, höre ich eine Stimme, die mir sagt: „Vergiss den langen Atem nicht.“ 
Meine Woche ist bis auf winzige Lücken – Stunden, die immer noch nicht sicher nur mir gehören – verplant. Der gesamte nächste Monat, um genau zu sein. Ein Tag um den anderen vergeht. Eine Aufgabe nach der nächsten ist zu erfüllen. Bis jetzt ging alles gut. Ich konnte jede Anforderung, die wichtig schien, bewältigen. Aber wie lange noch? Und was ist es mir wert? Wie bei König Midas wird mir alles, was ich anpacke, zu Gold. Ein Glück, nicht wahr? Und dann wiederum wertlos, wenn ich mich damit nicht nähren kann. Wenn ich weder Zeit und noch Ruhe habe, zu genießen. Und nicht genug Vertrauen, Aufgaben abzugeben. Mir bewusst zu werden, dass die Geschicke meiner Welt sich durchaus positiv entwickeln können, auch wenn ich nicht Drahtzieher jedes einzelnen Geschehens sein will. 
Ich hatte immer viele Interessen und Ideen. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, war es die Freude daran, diese umzusetzen. Von ihr bezog ich meine Kraft, die jeweils notwendigen Schritte zu tun und falls notwendig auch Durststrecken mit Gleichmut und Vorausschau durchzuhalten. Ich hatte schon befürchtet, diese Freude sei verloren gegangen in all dem Schutt, den ich in meinem Alltag anhäufe. Dennoch sagt mir meine Stimme, immer dann, wenn ich bereit bin, sie zu hören: „Sie ist hier.“ Ganz still hält sie und lässt sich suchen, finden. Freude, kraftvolle, grenzenlose Liebe. Ich erinnere mich an einen lang gehegten Wunsch, ein Vorhaben, dessen Verwirklichung mir mit den Fähigkeiten, die ich habe, immer wieder schier unmöglich schien. Zu vieles ist und war da, was mich hinderte, mangelnde Kraft und Eignung, Unzulänglichkeit. Wenn ich mich aber jetzt ganz bewusst umsehe, bemerke ich: Da gibt es Freunde, Helfer, die bereit sind, mich zu unterstützen, die mir Aufgaben abnehmen und mit mir an einem Strang ziehen wollen. Ich sehe sie vor mir, spüre die Last, die sich da von mir löst. Merklich entspannt sich mein Körper, die Nerven beruhigen sich, der Schmerz, der mich wachhielt, lässt von mir ab.
Jetzt bin ich bereit für den Schlaf. Lasse ihn zu. Hülle mich ein in ihn wie in ein weiches Tuch, willig, Kraft und Ruhe zu schöpfen. Mit Freude atme ich dem neuen Tag entgegen. Ich habe keine Angst vor den Herausforderungen, die er bringt. Die ich mir aussuche und die ich anzupacken, abzuwägen fähig bin. In meiner Stärke und in meiner Zeit.
Kathrin Primetzhofer

Der Walnussbaum

Da geht einer mit großen Schritten durch die Welt. Macht manchmal Halt an einem Ort, doch immer nur für kurze Zeit hält er es aus, zu rasten, auszuruhen, sich umzusehen. Dann muss er weiter. Doch wohin? Wo ist sein Ziel?
So viele Jahre, fast so lange, wie er denken kann, ist er schon unterwegs. Er ist es nicht anders gewöhnt, sagt er sich. Und oft genießt er es auch, unstet und ruhelos zu sein. Das gilt vor allem für die Tage, an denen ihn unsichtbare Flügeln zu tragen scheinen. Unabhängig, frei von jeder Bindung und Verbindlichkeit zieht er dann weiter, immer weiter. Die Geschwindigkeit steigt ihm ins Hirn wie ein Rausch, den er genießt. Nichts und niemand hält ihn auf. Aber wo will er denn überhaupt hin? 
In jede Richtung, hat er manchmal das Gefühl, tun sich ihm Pfade auf. Und ganz egal, welchen er wählt, weiß er auch schon, dass ein Entschluss gezwungenermaßen vielzählige weitere Entscheidungssituationen mitbedingt. Er fragt sich, was ihn antreibt und ob wirklich er es ist, der willentlich beschließt, eine bestimmte Richtung einzuschlagen, oder ob er in Wahrheit nur einer Stimme, einer Meinung folgt, die gar nicht ihm gehört. Den Ansichten der Eltern, der vermeintlichen Gesellschaft. Und dann verzweifelt er beinahe daran, dass die Antworten, die er zu suchen scheint, sich ihm entziehen. 
Es fällt ihm oft nicht leicht, doch wenn es ihm gelingt, sich auf den Rhythmus von Fortschritt und Ruhe einzulassen, dann kann er klarer sehen, wo er steht. Und genau hierin nimmt seine Sehnsucht Form an. Offenbart ihre Vielschichtigkeit, zeigt Möglichkeiten auf, die er vor langer Zeit bereits verloren glaubte. 
Da fällt ihm plötzlich etwas vor die Füße. Eine kleine Frucht, etwas Unvermutetes, ganz Einfaches. Behutsam hebt er es auf. Hält es an sein Herz und atmet ein. Sein ganzes Wesen antwortet mit einem Lächeln. Es ist sein Schatz, den er von Anbeginn an in sich trägt. Der in der Stille sichtbar wird und sich in seiner Zeit, in seiner eigenen Ausformung und Kraft entfalten kann. Wird er es zulassen? Er lacht und nickt.  
Kathrin Primetzhofer

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